Ockhams Rasiermesser – einfach besser denken

Ockhams Rasiermesser ist ein Denkwerkzeug aus der Wissenschaftstheorie. Es hilft uns dabei, unter mehreren Thesen die wahrscheinlichste für einen Sachverhalt zu finden. Und weil Ideen und Konzepte nichts anderes als Thesen sind, kann uns die Klinge auch im unternehmerischen Kontext behilflich sein.

15. April 2021

Zebra oder Pferd

Zu Beginn ihrer Karriere diagnostizieren junge Ärzte vergleichsweise häufig seltene Krankheiten. An amerikanischen Universitäten geben Professorinnen ihren Studenten deshalb gerne den folgenden Rat mit ins Berufsleben: »Wenn Sie Hufgeklapper hören, dann erwarten Sie nicht, ein Zebra zu sehen.«

Die Idee

Ockhams Rasiermesser ist ein Sparsamkeitsprinzip, das nach dem mittelalterlichen Philosophen Wilhelm von Ockham (1288–1347) benannte ist. Die Idee an sich ist allerdings viel älter und kann bis zu Aristoteles zurückverfolgt werden. Im Kern besagt Ockhams Rasiermesser, dass von mehreren möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen ist.

Eine These

Eine These ist dabei umso einfacher, je weniger Variablen – also unbestätigte Annahmen – sie enthält. Oder je wahrscheinlicher die einzelnen Annahmen sind. Hören wir Hufgeklapper in New York, könnte das von einem Kentauren erzeugt werden, von einem Zebra – oder aber von einem Pferd. Da wir uns weder im mythologischen Griechenland noch im südlichen Sudan befinden, ist das Pferd die einfachste und damit wahrscheinlichste Erklärung. Einen Anspruch auf Wahrheit stellt das Prinzip aber nicht. Denn auch im Central Park kann am Ende ein Zebra ums Eck galoppieren, wenn es zuvor aus einem Zoo entfleucht ist. Sicher können wir eben nie sein.

Blaubeerkuchen

Ockhams Rasiermesser wirkt auf den ersten Blick banal. Doch wir Menschen neigen in allen Lebensbereichen dazu, komplizierte Narrative für Dinge zu erfinden, die rund um uns geschehen. Wir stellen schneller kausale Zusammenhänge zwischen zwei Ereignisse her als wir Blaubeerkuchen sagen können – und tun das oft ohne groß darüber nachzudenken. 

Seit Jahrhunderten schreiben wir schlechte Ernten erbosten Göttern zu. Bill Gates hat das Corona-Virus in die Welt gesetzt, um uns Mikro-Chips einzupflanzen. Schuld war natürlich der Schiedsrichter. Und junge Ärzte halten Blähungen manchmal für Herzinfarkte. 

»Anybody can make the simple complicated. Creativity is making the complicated simple.«

Charles Mingus

Nicht einfach

Dass es in unseren nicht immer ganz unkomplizierten Arbeits- und Lebenswelten durchaus mit Aufwand verbunden ist, die einfachste These, das einfachste Modell oder die einfachste Erklärung für etwas zu finden, wird dabei oft unterschätzt. Einerseits muss man etwas wirklich verstanden haben, um wegzurasierende Variablen erkennen und kürzen zu können.

Andererseits gibt es in vielen Bereichen unseres Lebens und Arbeitens starke Anreize, Dinge komplizierter erscheinen zu lassen als sie sind. Ausschweifende Präsentationen, Bullshit-Buzz-Phrasen und Branchenjargon sollen Kompetenz signalisieren. Dabei ist Kompliziertheit selten ein Merkmal von Qualität, sondern zeugt eher davon, keine robuste These in der Tasche und damit die Dinge nicht richtig verstanden zu haben. 

»If you can’t explain something in simple terms, you don’t understand it.«

Richard Feynman

Wahrscheinlich erfolgreicher

Apropos Thesen: Solche sind natürlich auch Kommunikationskonzepte, Geschäftsmodelle, Markenstrategien, Texte oder Designentwürfe. Sie sind allesamt Ideen und Annahmen darüber, wie wir ein bestimmtes Ziel erreichen. Und je einfacher und klarer diese Ideen, Thesen und Modelle sind, je weniger Unsicherheiten und Unwahrscheinlichkeiten sie enthalten, desto robuster – und damit erfolgsversprechender sind sie in der Regel auch.

Wie erfolgreich die Maxime Reduktion Organisationen und Produkte anleiten kann, zeigt etwa auch die von von W. Chan Kim und Renée Mauborgne entwickelte »Blue-Ocean-Strategie«. Dabei handelt es sich um eine Methode, die in der Eliminierung und Reduktion eine entscheidende Basis zur Erschließung ungenutzter Teilmärkte sieht.  

Es macht also durchaus Sinn, über neue Konzepte, Entwürfe und Ideen einmal gedanklich Ockhams Rasiermesser zu ziehen. Welche unbestätigte oder unwahrscheinliche Annahmen kann ich eliminieren? Gibt es einfachere und damit wahrscheinlichere Modelle? Kann ich überflüssige Dinge reduzieren? Welche der vorgeschlagenen Ideen ist die einfachste? Gute Antworten auf diese Fragen garantieren zwar den Erfolg nicht, machen ihn aber vielleicht ein wenig wahrscheinlicher. Und genau darum geht es doch am Ende. 
 

Patrick Greimel ist freier Konzepter und Texter spezialisiert auf die inhaltliche und narrative Entwicklung 
von Marke und Kommunikation.

Fotocredit: @qr_filing, unsplash.com

Der Newsletter.

Sie stolpern gefühlt über die immer selben Inhalte? Solche, die weder Spaß machen noch neue Ideen und Erkenntnisse anschubsen? 

Hier gibt’s Abhilfe.

Hinterlassen Sie Ihre E-Mail-Adresse und freuen Sie sich künftig regelmäßig über perspektivenerweiternde Essays, Notizen und Werkzeuge zu Denken, Schreiben und Wachstum.

Scroll to Top